London im November – das klingt nach Regen und tristen, dunklen Tagen im Spätherbst. Doch die britische Hauptstadt zeigte sich ganz im Gegenteil von ihrer besten Seite – und das lag nicht nur am erstaunlich guten Wetter. Eigentlich hatte ich mit meinem Internationalen Medien-Stipendium die Reise in die USA antreten wollen. Das Ziel war eine Onlineredaktion. Doch weil die Praktikumssuche sich schwieriger gestaltete als gedacht und die Sir-Greene-Stiftung und Herr Schulz zum Glück sehr geduldig und flexibel waren, schwenkten wir um. Statt ins Land der unendlichen Möglichkeiten ging es für mich nun zum britischen Guardian – eine mehr als annehmbare Alternative und eine sehr spannende Wahl.

Denn es warteten nicht nur ein tolles Team und eine spannende Redaktion auf mich, sondern auch ein Themenfeld, das in Deutschland erst seit wenigen Jahren so richtig auf dem Vormarsch ist: Datenjournalismus. Schon in meiner Zeit als Volontärin bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hatte ich in der Onlineredaktion an einem kleinen Datenprojekt gearbeitet, inspiriert von einigen spannenden Online-Datenprojekten deutscher Medien. Und als ich sah, dass der Guardian die Möglichkeit eröffnete, in die Datenredaktion hineinzuschnuppern, war klar: Das soll es sein. Denn nicht nur im Online-Journalismus bieten Daten die Möglichkeit, Geschichten auf ganz andere Weise zu erzählen, auch im klassischen Schreiber-Genre lassen sich so neue Themen finden und neue Ansätze für die Recherche entdecken.

Eingang zur Redaktion von Guardian und Observer

In meinem Team mit drei Datenjournalistinnen bin ich in meiner Praktikumszeit gut aufgehoben. Ich lerne im Newsroom am King’s Place, in dem etwa 600 Mitarbeiter sitzen, nicht nur die Themenansätze für Datenrecherchen zu verfeinern, sondern auch, welche offenen Quellen sich für das Finden von geeigneten Datensätzen nutzen lassen, welche Programme beim Sammeln der Daten helfen und wie sich verschiedene Datensätze zusammenfügen und vergleichen lassen. Die Themen, an denen ich arbeite, sind dabei sehr vielfältig. Vom sozialen Wohnungsbau über Suizide bis hin zum Umgang mit sexueller Belästigung an britischen Universitäten.

Regents Canal am Kings Place, dem Redaktionssitz des Guardian

Neben der Entstehung der Geschichten bekomme ich auch einen Einblick in die Visualisierung für den Onlinebereich und die Social-Media-Strategien beim Guardian – und kann am Ende sogar eigene Geschichten mitveröffentlichen (nicht selbstverständlich, denn unter Umständen nimmt die Datenrecherche einige Zeit in Anspruch). Drei Tage verbringen wir damit, die Webseiten der bekannteren britischen Presse auf den Einfluss von Twitter-Fake-Accounts zu untersuchen. Mit Erfolg – mehr als 70-mal wurden die sogenannten Bots in den Medien zitiert. Noch ein Grund, beim Einbinden von Tweets genauer hinzusehen.

Von wegen Regen – Blick von der Tower Bridge

Am Ende kommt mir die Zeit beim Guardian natürlich viel zu kurz vor – viel mehr Datenrecherche hätte noch gewartet, viel mehr Geschichten hätten noch geschrieben werden wollen. Doch dank der Sir-Greene-Stiftung habe ich tolle Einblicke bekommen, viele Ideen mit nach Hause nehmen können und neue Tools kennengelernt, die ich zukünftig bei meiner journalistischen Arbeit einsetzen kann. Denn das letzte Mal, so viel ist sicher, werde ich bestimmt nicht mit Daten gearbeitet haben.

Während ihres Praktikums hat Sabine Gurol u.a. an diesem Artikel mitgearbeitet:
Russian ‘troll army’ tweets cited more than 80 times in UK media